Gähn, raschel. Bonjour, Normandie! Ich bin die Erste der Familie, die aufwacht und ziehe mich so leise, wie es in einem Wohnmobil möglich ist, um. Das Wetter in der Küstenflussstadt Honfleur ist genauso blendend wie am Vortag und ich nutze die angenehmen morgendlichen Temperaturen, um an dem vom Campingplatz Le Phare nahe gelegenen Strand „Plage du Butin“ zu joggen. Die Ebbe hat den Strand bis auf einige ausgedehnte flache Salzwasserlachen plank gezogen und ich hüpfe umher um keine nassen Laufschuhe zu bekommen. Der Ausblick vom Plage du Butin geht auf die Ölraffinerien von Le Havre oder das, was ich dafür halte. Die weißen Raffenerietürme zeichnen sich am diesigen Horizont ab. Das ist kein gewöhnlicher Anblick. Aber sooo schlimm ist es auch wieder nicht. Eben ungewöhnlich für mich. Der Strand „Plage de Vasouy“ am westlichen Ortsrand von Honfleur, unterhalb der Côte de Grâce, ist sicherlich schöner. Aber weiter weg von unserem Campingplatz Le Phare.
Nach einer Dusche im müffelnden Campingplatz-Badehaus frühstücken wir schnell im Wohnmobil, arbeiten unsere To-Do-Abfahrtsliste ab und tuckern weiter nordöstlich in Richtung Le Havre. Wir passieren zum zweiten Mal auf unserer Nordfrankreich-Tour die spektakuläre 856 Meter lange Schrägseilbrücke über den Seine-Fluss. Allerdings nun gehts es mit uns in die östliche Richtung. Am Ende der Brücke begrüßen uns stumm einige bewaffnete und sonnenbebrillte Soldaten. Frankreich scheint wachsam zu sein. Wir ahnen weshalb. Von unserem Urlaub haben uns die Geschehnisse in Frankreich der ersten Jahreshälfte nicht abgebracht. Im Gegenteil!
Die 170.000 Havrais zählende Stadt Le Havre lassen wir links an der Küste liegen. Dies bedeutet keineswegs, dass die Hafenstadt uns nichts zu bieten hätte, immerhin genießt sie Weltkulturerbestatus. Mich würde schon sehr interessieren, wie die Stadt nach den schweren Zerstörungen des 2. Weltkriegs durch ein Team von 60 Architekten zwischen 1945 und 1954 wieder aufgebaut wurde. Aber es hilft nichts. Wir müssen schlicht und ergreifend Strecke machen, Baby. Doch wir haben eine tolle Zwischenetappe ausgewählt. Unsere nächste Station heißt: Amiens!
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Amiens, die Hauptstadt der Picardie
Unsere Wetter App zeigt sportliche 34 Grad Celsius für Amiens an. Wir sind entsprechend verschwitzt und froh, als wir endlich einen Parkplatz (mit Parkuhr) für unser Wohnmobil in der Nähe des „Musicaa Auditorium Dutilleux“ finden und springen hinaus auf den Gehsteig. Obwohl heute eher Badewetter ist, gehen wir über das glühend heiße Pflaster von Amiens. Nicht umsonst wird die – Asterix und Obelix Fans bitte aufgepasst – ehemals gallisch-römische Siedlung als eine der ältesten und kunsthistorisch wertvollsten Städte Frankreichs bezeichnet.
Haben wir eine an der Lampe?
Nach einer kleinen Shoppingattacke im klimatisierten Concept Store mit dem unfranzösisch klingenden Namen „Wanderlust“ sowie in einem wiederum sehr französischen Kinderbekleidungsgeschäft, das ich ansonsten nur durch Onlinebestellungen erreiche, laufen wir mit Tüten bepackt am schmucken Hôtel de Ville, vorbei zum Place de Gambetta. Haben wir jetzt Halluzinationen vor lauter Hitze bekommen? Der Platz ist geschmückt mit dutzenden überdimensionierten bunt gemusterten Lampenschirmen, die an mehreren parallel verlaufenden Schnüren von einer Hausseite zur anderen baumeln. Das lockert den ansonsten sehr geradlinigen Platz ungemein auf. Ein wirklich einladender öffentlicher Raum, der ansonsten von den üblichen verdächtigen Geschäften umgeben ist. Und das Konzept scheint zu funktionieren. In dieser Open-Air-Wohnzimmerathmosphäre braten jüngere wie ältere Anwohner in bunten Sonnenliegen und Kinder spielen im Springbrunnen. Das ist verboten, aber bei dem Wetter meckert kein Gendarm. Das ist ein Bild von Amiens, das ich lange und gut in Erinnerung behalten werde, spüre ich.
Abkühlung in Kathedrale Notre-Dame
Nach so viel Lockerheit muss das Kontrastprogramm her. Nebenan werden wir von der Tourismusinfo mit einem Stadtplan versorgt, so dass wir den Weg zu einer der größten Kathedralen Frankreichs, die, welch Überraschung, wieder mal „Notre-Dame“ heißt, gut finden. Die 145 Meter lange und 70 Meter breite Inkarnation feinster gotischer Architektur und Bildhauerkunst ist auch ohne Stadtplan nicht zu übersehen, als wir kurze Zeit später von der Rue Dusevel auf dem „Place Notre-Dame“ stehen und unsere Köpfe staunend in den Nacken legen. Jetzt eine Abkühlung gefällig? Ouiiiiii! Wir betreten das höchste Kirchenschiff Frankreichs und erholen uns von der spätsommerlichen Hitze. Hier ist keine Klimaanlage nötig. Dieses Mitglied des elitären UNESCO-Weltkulturerbe-Clubs ist luftig genug gebaut.
Die Kinder sind bei ihrem Versuch auf dem heiligen kühlen schwarz-weißen Steinfußboden ein Wettrennen zu veranstalten kaum zu bändigen. Die bunten Glasfenster und Rosetten zaubern kitschige Lichtspiele auf die Kirchenwände. Unsere Tochter darf sogar eine Kerze für eine Heilige entzünden. Ich bin von der Architektur der Kathedrale schon sehr beeindruckt. Um die anderen Besucher in ihrer religiösen oder architektonischen Andacht jedoch nicht zu stören, verlassen wir den Sakralbau mit den Kindern bald wieder.
Klein-Venedig mitten in Amiens
Die Hitze nimmt uns wieder in ihre klebrigen Arme. Die Kinder möchten ein Eis haben. Wir auch. Ganz in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame bewegen wir uns durch das so genannte Klein Venedig des Nordens, Saint-Leu genannt. Und wirklich, der Vergleich der Tourismuswerber kommt mit ein wenig Phantasie schon hin. Kleine Kanäle durchziehen das alte Amiens. Doch viele der eigentlich hübschen Häuser sind verlassen und herunter gekommenen. Aus einem wächst ein Bäumchen aus der Fassade. Schade, dass nicht mehr daraus gemacht wird. Oder ist das vielleicht besser so? Der Tourismus ist hier auf jeden Fall nicht sonderlich auffällig, wie in so manchem Küstenort der Normandie. In anderen Städten Europas wären die Häuser sicherlich schon längst bis zum Get no saniert und dann zu horrenden Preisen an Zugezogene verhökert. Auch in Amiens sehen wir einige „Zu verkaufen“ Schilder in den Fenstern. Es wird also nicht mehr lange dauern…
Zwar halten wir jeder mittlerweile ein Wassereis in den Händen, aber es ist und bleibt für eine Stadtbesichtigung mit Kindern zu heiß. Wir stellen also das Jules Verne Haus und das wunderbare Museum der Picardie für heute hinten an und begeben uns auf den Rückweg. Wir müssen schließlich noch einen Stellplatz für unser Wohnmobil finden. Morgen ist ja auch noch ein Tag für Amiens und seine Sehenswürdigkeiten, n’est-ce-pas?
Auf dem Weg zum Wohnmobil decken wir uns in der Rue Dumeril im Supermarkt Carrefour mit Zutaten fürs unser Abendessen ein und stoßen in der Nähe unseres Parkplatzes wir auf eine Art Baumarkt, wo wir vergebens nach einem möglichst klein zusammen legbaren Campingstuhl suchen. Seit unserem Aufenthalt auf dem Campingplatz Sarl Camping du Casino bei Oye-Plage (Wohnmobil-Tour durch Nordkrankreich Teil 5) fehlt uns bereits eine Sitzgelegenheit. Statt mit einem Stuhl kommen wir jedoch mit einem Tablett (genau das, was unsere Tochter in Berlin vor einiger Zeit versehentlich zertreten hat) und bunten französischen Laguiole Buttermessern heraus.
Unser Stellplatz auf dem Campingplatz „Parc des Cygnes“
In der Nähe des Friedhofs La Madeleine, auf dem der Schriftsteller Jules Vernes begraben ist, finden wir den Campingplatz „Parc des Cygnes“. Er ist fast leer, obwohl er noch neu und modern aussieht und viel Grün bietet. Schattige Plätze sind leider trotzdem rar. Am Ende unserer Suche finden wir eine halbwegs schattige Wiese, die wir fast für uns alleine haben. Wir packen Tisch und Stühle sowie den Gasgrill aus, weil uns hier nach ankommen ist.
Ich gehe mit unserer Jüngsten erst einmal den Mix aus Sonnencreme und Schweiss abduschen. Ihre Windpocken brauchen dringend etwas Pflege. Anschließend wird sie gegen den Juckreiz weiß gepudert und revanchiert sich auch gleich bei uns. Wir sehen aus, als wären wir in eine Bäckerei eingebrochen.
Nachdem die Kinder im Wohnmobil schlummern, bleiben wir noch lange draußen in der lauen Sommernacht sitzen und genießen den entspannten Tagesausgang im Grünen.
Adressen und weitere Informationen
Campingplatz Parc des Cygnes
111 Avenue des Cygnes
80080 Amiens
www.parcdescygnes.com
Place Gambetta
80000 Amiens
Frankreich
www.google.com/maps/place/Place+Gambetta,+80000+Amiens,+Frankreich
Kathedrale Notre-Dame
30 Place Notre Dame
80000 Amiens
www.amiens-tourisme.com
Wanderlust Concept Store
www.wanderlust-conceptstore.com
Friedhof La Madeleine
480 rue St-Maurice
80000 Amiens
Musée De Picardie
48 Rue de la République
80000 Amiens
www.amiens.fr
Maison de Jules Verne
2 Rue Charles Dubois, 80000 Amiens
www.amiens.fr/maisonjulesverne
Reise- und Etappenführer für Wohnmobilreisen
„Mit dem Wohnmobil durch die Normandie“ (Womo-Reihe), Taschenbuch, 1. Juli 2013„DuMont direkt Reiseführer Normandie“, Taschenbuch, 25. Juni 2015„Mit dem Wohnmobil nach Nordfrankreich“ (Womo-Reihe), Taschenbuch, 3. Feburuar 2014„Tourenführer Frankreichs Norden mit dem Wohnmobil“, Broschiert, 23. Februar 2012ADAC Campingführer Südeuropa mit herausnehmbarer PlanungskarteADAC Stellplatzführer Deutschland/Europa mit zwei herausnehmbaren PlanungskartenEtappenführer France Passion