Unsere Freunde aus Italien haben uns einen Besuch in Berlin abgestattet. Tagelang hatten wir Zuhause überlegt, was wir ihnen in unserer Stadt in der Kürze zeigen könnten und Ideen gesammelt. Unsere Freunde, ein Paar mit Kleinkind, er beruflich Programmierer und Musiker und sie Kunstlehrerin und Künstlerin, hatten aber eine bereits eine konkrete Vorstellung im Gepäck: Sie möchten so genannte „lost places“, also verlassene Orte, besuchen. Dufte, von „verbotenen“ bzw. verlassenen Orten und Gebäuden haben wir ja in Berlin und Brandenburg eine Menge. Schnell einigten wir uns auf die Beelitzer Heilstätten im Landkreis Potsdam-Mittelmark für unsere „Urban Exploring Tour“. Schon seit Jahren ist das von der Landesversicherungsanstalt von 1898 bis 1930 errichtete und heute denkmalgeschützte Ensemble ein Besuchermagnet für Touristen sowie Berliner und Brandenburger. Nicht zuletzt durch zweifelhafte Parties, Geisterbeschwörungen sowie auch tödliche Unfälle ist das Areal im Internet weltweit bekannt geworden.
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Beelitzer Heilstätten: geheimnisvolle Ruinenlandschaft im märkischen Kiefernwald
Dennoch hatten wir es bisher versäumt das 200 Hektar große Areal mit den rund 60 Gebäuden zu besichtigen. Unser lieber Besuch aus dem Süden Europas ist also eine prima Anlass an einem schönen Wintertag das ehemalige preußische Vorzeigekrankenhaus für Tuberkulosekranke, das in zwei Weltkriegen als Lazarett und danach als sowjetisches Militärhospital diente, zu besuchen.
Die Volkskrankheit Tuberkolose
Um 1900 herum war die Tuberkulose eine weit verbreitete Volkskrankheit, die tödlich endete, so sie nicht behandelt wurde. Circa 30 Prozent der männlichen Arbeiter erkrankten zwischen ihrem 20. Und 30. Lebensjahr an der Lungenschwindsucht. Auch bekannte Künstler, wie Chopin, Gorki und Kafka erlagen der Krankheit. Hier in Beelitz war die Luft staubfrei. Es gab genug Licht, Sonne und Luft so dass sich die Menschen seelisch wie körperlich erholen konnten. Da ein Großvater meinerseits ein Facharzt für Lungenkranke war, finde ich die Lungenheilstätten doppelt interessant.
Auf dem Weg ins „komische Krankenhaus das kaputt ist“ (Originalton unserer Tochter)
Im Internet finden wir Informationen über verschiedene Führungen, die seit dem 27. Januar 2017 wieder regelmäßig von Go2know stattfinden und entscheiden uns für die alte Chirurgie. Sie sieht auf den Fotos ziemlich gruselig aus. Wir packen alle Bamibini sowie Schneeanzüge, Kameras und Proviant in die Autos und düsen gen Potsdam los.
Der Autoparkplatz ist bereits gut gefüllt als wir um 13.20 Uhr, knappe zehn Minuten vor Führungsbeginn vor den Toren des Areals, ankommen. Auch das Café im sanierten Pförtnerhaus an einer Toreinfahrt ist knüppeldicke voll.
Filmkulisse oder Wirklichkeit?
Auf dem Weg zur Besucherinformationen und Kasse kommen wir uns bereits wie in einer Filmkulisse von Harry Potter vor. Oder doch eher vom Zauberberg? Bäume wachsen aus Schindeldächern und aus zerborstenen Fenstern ranken sich Pflanzen sich um die altehrwürdige Backsteinfassade der verschiedenen Sanatoriumsgebäude. Alle Gebäude sind aus Sicherheitsgründen umzäunt. Ich rate auch jedem nur mit Führung die Gebäude zu betreten. Es besteht Lebensgefahr wegen möglicherweise einstürzendem Dächern oder Treppen.
Die Beelitzer Heilstätten waren früher unter anderem mit einer eigenen Kirche für Protestanten und Katholiken (die nicht mehr existiert und deren Bauelemente später für ein Kasino in Beelitz herhalten mussten), einem Heizkraftwerk (von einem Förderverein betrieben), einer Fleischerei, einer Post, einem damals sehr beliebten Restaurant mit Gartenbetrieb, einer Bäckerei und einer Gärtnerei (deren Ruinen wurden mittlerweile abgetragen) eine richtige Stadt für sich. Schließlich mussten hier auch um die 1.600 Patienten, Ärzte und Pflegekräfte versorgt werden.
Über den Bäumen wird der Ausblick wohl grenzenlos sein
Im Quadranten A des Geländes fällt uns der Baumkronenpfad auf, der zwischen den kahlen Winterbäumen hervorlugt. Einige Besucher spazieren locker flockig in circa 20 Meter Höhe auf einem etwa 2,50 Meter breiten Weg umher und genießen von oben den Ausblick auf den Waldpark und die Gebäude mit ihrer wechselvollen Geschichte. Tolle Sache!
Die alte Chirurgie, ein Geisterhaus?
Unser Guide und die Gruppe warten freundlicherweise auf uns Nachzügler. Nachdem wir die Sicherheitsunterweisung unterschrieben, die Tickets kontrolliert und den Ablauf der Führung erläutert bekommen haben (entweder man macht die Führung oder bewegt sich auf eigene Faust durchs Gebäude), geht es endlich los ins Innere der alten Chirurgie.
Leider ist das Eingangsportal auf der Südseite, des für Luftkuren mit Balkonen gesäumten Hauses, der Zerstörungswut zum Opfer gefallen. Große Steinbrocken sind stumme Zeugen. Im Eingangsbereich stecken hingegen noch viele Glühbirnen in den Fassungen der einstigen Deckenbeleuchtung. Fragt sich nur wie lange noch.
Unsere Zweijährige nimmt mein Mann vorsichtshalber auf seine Schultern und unsere Sechsjährige bleibt bei mir an der Hand. Das Kind unserer Freunde ist im Buggy eingeschlafen. Zum Glück sind unsere Kinder so vorsichtig, denn es gibt hier teilweise ungesicherte Bereiche, die gekennzeichnet bzw. mit Palletten und Schildern abgesperrt und nicht betreten werden dürfen. Wer Kinder hat, die keine Angst kennen, sollte sie besser nicht hineinnehmen.
Das Erdgeschoss
Der Guide erklärt uns auch mit Hilfe von Fotos zuerst die geschichtlichen Hintergründe und gibt einige interessante Details preis. Nach dem ersten Weltkrieg ärgerte sich Adolf Hitler in den Beelitzer Heilstätten über die nachlassende Kampfeslust der anderen Gefreiten. 1990 flüchtete sich einst Erich Honecker vor der Justiz zu einem dort ansässigen sowjetischen Kommandeur bevor er und Margot Honecker nach Moskau ausgeschleust wurden.
Nach dieser und vielen weiteren interessanten Informationen starten wir mit der eigentlichen Besichtigung des Männertraktes im Erdgeschoss. 1930 eröffnet, bot das 160 Meter lange Haus (zum Vergleich: der Kölner Dom misst 157 Meter Länge) einst Platz für 88 Betten mit Radioanschluss und einer zentralen Rufanlage! Ein ausgeklügeltes Heizungs- und Lüftungssystem gab es ebenfalls. Stündlich wurde die Luft ausgetauscht und mit Feuchtigkeit angereichert. 1930 eingeweiht, gehört die ehemalige Chirurgie zu den Häusern, die funktionaler und weniger Schloss ähnlich errichtet wurden als frühere Sanatoriumsgebäude. Die Baulichkeiten wurden genau auf die Bedürfnisse der Ärzte und Patienten angepasst. Nur mit sehr viel Fantasie kann man sich in diesem tragischen Schutthaufen die damaligen Einzelzimmer, den Vorstellungsraum, die Umkleiden etc. vorstellen. Leider ist durch den enormen Vandalismus nichts mehr vom Inventar übrig geblieben. Im Aufzugsschacht stapeln sich die alten Analysegeräte meterhoch. Vor einigen Jahren soll dort noch ein gusseiserner Fahrstuhl im Schacht gehangen haben. Unfassbar, dass alles bis 1994, als die Chirurgie noch als Militärkrankenhaus von den Sowjets genutzt wurde, intakt gewesen sein muss.
Das Obergeschoss
Die türkis und rosa farbigen Kacheln der Wände liegen in Scherben auf dem Boden des einstigen Operationssaales auf der Nordseite des Krankenhauses. Kein einziges Fenster ist mehr heil. Die Jalousien wiegen sich im Winterwind. Auf dem vereisten Boden findet unsere Tochter einen Golfball. Ob der einem Chefarzt oder einer Chefärztin aus der Kitteltasche gefallen ist? Eher wahrscheinlich ist, dass den hier jemand mal beim Crossgolf hat liegen lassen.
Der durch Fotos bekannte mit Moos bewachsene Operationstisch steht schon seit zehn Jahren nicht mehr hier. Aus dem Operationssaal können wir durch die leeren Leuchtkästen in die Nebenräume blicken. Junge Birken- und Kieferbäumchen wachsen im offenen Dach, das nur noch aus Stahlgerippen des einst verglasten Raumes besteht.
Im immer noch sehr schönen türkis gefliesten ehemaligen Baderaum bittet unsere Zweijährige meinen Mann die Fenster zu schließen, weil es „eisekalt“ sei. Sehr umsichtig, kommentiert unser Guide sichtlich amüsiert. Es gibt zwar Fenster in dem Raum, aber ohne Scheiben. Als er dann den „blauen Heinrich“, so hieß die Spuckflasche der Patienten, zückt, dessen Funktion erklärt und berichtet, dass heutzutage jeder Dritte von uns den Tbc-Virus in sich trage und der Erreger nur aufgrund unseres stärkeren Immunsystem nicht ausbricht, fängt ein Gast passenderweise an zu husten. „Wie immer an dieser Stelle“, schmunzelt der Guide.
Sind die Beelitzer Heilstätten noch zu retten?
Mir tut es um das Gebäude sehr leid. Es sieht erbärmlich aus und wirkt dennoch noch immer würdevoll und anmutig. Das die alte Chirurgie eines Tages „gerettet“ werden kann, so wie zehn der insgesamt 60 Gebäude der einstigen Heilstätten, denke ich nicht. Der Vandalismus, der nach Abzug der Sowjets 1994 einsetzte, hat einfach zu viel unwiederbringlichen Schaden angerichtet. Der Guide berichtet von Plänen nach denen ausgewählte Gebäude des Areals in ein so genanntes Creative Village für Kreative umgebaut werden sollen. Si, si, genauso wie eines Tages der Flughafen BER fertig werden soll, lacht unser Amico. Ich bin gespannt, ob nicht doch eines Tages hier noch etwas Neues entsteht. Der Baumwipfelpfad, den es seit Herbst 2015 hier gibt, soll ja laut Berichten des Guies zumindest ein Besuchererfolg sein.
Draußen atmen wir erleichtert auf. Draußen ist es um ein paar gefühlte Grad wärmer als es im Inneren der zugigen Klinik. Wir sind zu durchgefroren um noch den Baumwipfelpfad zu erklimmen oder uns auf dem Areal weiter umzugucken und bewegen uns daher zurück zum Café. Leider ist es immer noch oder wieder knackevoll. Wir laufen weiter zum ehemaligen Desinfektionshaus in dem seit 1999 das Hotel Gustav residiert. Im Wintergarten und Speisesaal des Hauses wärmen wir uns an einer leckeren Suppe.
Adressen und weitere Informationen
Anfahrt mit Bus und Bahn:
Beelitz Heilstätten
14547 Beelitz
Im Zentrum der Beelitzer Heilstätten liegt der Bahnhof Beelitz-Heilstätten“, dort hält der RegionalExpress RE 7 (Wünsdorf-Waldstadt – Dessau, mit Halt in Berlin-Schönefeld, Berlin Ostbahnhof, Berlin Hbf., Berlin Zoo und Potsdam-Rehbrücke).
Führungen in den Beelitzer Heilstätten:
www.go2know.de/Fototouren/Beelitz-HeilstaettenHintergrundinformationen zu den Heilstätten:www.beelitzer-heilstaetten.de
Baumkronenpfad:
www.baumundzeit.de/baumkronen-und-zeitreisepfad
Gastronomie
Landhotel Gustavhttp://www.landhotel-gustav.de/index.htmCafé Zum Pförtnerhaus
Str. nach Fichtenwalde 13, 14547 Beelitz
Telefon:033204 638330
zum-pfoertnerhaus.com/zum-pfoertnerhaus
Beelitzer Heilstätten in den Medien
„Beelitzer Heilstätten sollen Kunstateliers werden“, Der Tagesspiegel, 20.9.2014
www.tagesspiegel.de/berlin/neue-ideen-fuer-alte-klinik-in-brandenburg-erich-honecker-fluechtete-im-april-1990-in-die-beelitzer-heilstaetten-/10729884-2.htmlRuine lockt mit der Schönheit des Verfalls, Potsdamer Neueste Nachrichten, 22.2.2015: www.pnn.de/pm/941056/„Jeder Dritte trägt den Tuberkulose-Erreger in sich“, Welt, 18.3.2015
www.welt.de/gesundheit/article138533041/Jeder-Dritte-traegt-den-Tuberkulose-Erreger-in-sich.html
Bücher und Filme über die Beelitzer Heilstätten
Beelitz-Heilstätten. Vom Sanatorium zum Ausflugsziel (Geschichts- und Erinnerungsorte) Taschenbuch, 1. August 2016Geheimnisvolle Orte Vol.3: Die Avus – Beelitz-Heilstätten (DVD)Verlassene Orte/ Abandoned Berlin Taschenbuch – 26. Februar 2015